Jörg Schneider ist 1953 geboren. Er lebt und arbeitet in Oberwil.
Das Mass, die Kraft, die Lösung
Im Zentrum steht der Mensch, der Körper des Menschen. Er gibt das Mass vor. Nicht um sein Abbild geht es, sondern darum, was er mit diesem Mass, das die Proportionen schafft, tut: Es geht um seine Möglichkeiten. Der Ideenkomplex, der hinter dem Werk steht, ist ein antiker; er betrifft die Vervollkommnung des Menschen, das heisst die Harmonisierung des Einzelnen gemäss seinen individuellen Vorgaben. Dafür hält die Kunst her. Hier wird sie brauchbar. Die Idee ist gross und bescheiden zugleich.
Ob die Skulptur im Raum steht oder reliefartig an der Wand hängt, der
Betrachter, der Mensch begegnet sich selbst. Wer ist er? Keine andere Frage wird gestellt, zwar in vielerlei Varianten, sie wird allen möglichen künstlerischen Differenzierungsprozessen unterzogen, aber diese alte Kernfrage steckt unentwegt im Holz, das Jörg Schneider bearbeitet hat.
Fragen lassen sich auf viele Arten formulieren, auf die Formulierung als solche kommt es an. Eindeutig betont ist die Senkrechte. An ihr orientiert Jörg Schneider alles, was ihn künstlerisch interessiert, das Innen wie das Aussen, das Sichtbare wie das Unsichtbare. Nimmt man das menschliche Rückgrat als Sinnbild der Senkrechten, so gewinnen die Torsi und andere Figurensegmente ihre evolutionäre Bedeutung, und die Senkrechte verkörpert die innere Haltung.
Zunehmend 'zeigt' sich in den Arbeiten der letzten zwei Jahre das Unsichtbare. Die Funktion von Masse wird umverteilt. Der Negativraum wird mindestens gleich gewertet und gewichtet wie die eigentliche Skulptur; er wird Teil von ihr. Oft stellt er den dynamischen, aktiven Teil dar, dem die Gestaltung des Holzes nur noch als Ausdrucksmittel dient. Einige Plastiken reduzieren sich sogar zu reinen Funktionsträgern des Negativraums, und es geht nur noch um ihn: Das Dazwischen wird zur Skulptur. Ein ungewöhnlich lyrischer Moment tritt ein. Das zur Verfügung stehende ‹Sprach›-Material, die Sprache des Holzes, wird dazu verwendet, das Unsagbare explizit ausdrücken, und die gezogene Linie oder Kante verlässt den physischen Raum und grenzt nur noch an ihn an.
Was wie das Herausschälen aus dem Holz aussieht, ist ein Eindringen ins Holz. Das Suchen nach dem Geheimnis der Natur, wird handwerklich ernstgenommen: Es interessiert erkenntnismässig, was sie alles zu bieten hat. Die Erkenntnis wird nicht intellektuell, sondern mit dem Körper gesucht. Körperbezogen. Das heisst wörtlich: Man kann sich vor Jörg Schneiders Skulpturen hinstellen, quasi Bauch zu Bauch, und im eigenen Leib nachspüren, was die Konfrontation mit einem
anstellt. Das ist ihre gestaltete Kraft, die zwar einen meditativen Charakter hat, dem aber ziemlich viel Wildheit innewohnt. Schneiders Handwerkszeug ist die Kettensäge, ein recht gewalttätiges Instrument, und in unerfahrenen Händen auch ein gefährliches.
Was die fertige Skulptur vermitteln will, dieses Zurückgeworfenwerden des
Betrachters auf sich selbst, begleitet auch ihren Entstehungsprozess. Er beginnt mit der Auswahl des gefällten Baustamms vor der Holzauktion im Wald. Das ‹Kennenlernen› des Holzes ist spannungsreich, der Baumstamm «wird mit dem Magen aufgenommen». Es folgt ein oft monatelanges Herantasten an den Holzblock im Atelier. «Innere Stimmung wird ins Holz gegeben». Während der effektiven Arbeit fallen die Entscheide schnell, aus jähem Gefühl heraus – langsam lässt sich mit der Kettensäge nicht hantieren.
Aber jede Plastik ein eigenes spirituelles Zentrum. Das Wunschziel ist dezidiert ausgedrückt: Klarheit, Reinheit, Ausgewogenheit. Alle drei Begriffe können sinnlich nur in der Spannung bestehen. Ihre Kraft bliebe flügellahm, wäre ihr Gegenpol nicht in die Gestaltung einbezogen, und die Gestaltung betrifft nichts als eine Masse, die dem eigenen Körper standhält und ihm entgegensteht. Jedoch muss sich die dynamische Spannung – die Kraft – irgendwann lösen, sonst tritt der Moment des Unerträglichen ein. Ein Paradox, oder besser eine Dialektik formuliert sich: Denn gerade die Kraft zu halten, ist die Aufgabe der Skulptur.
Nochmals: Klarheit, Reinheit, Ausgewogenheit – deren spannungsbezogene Kraft. Die Lösung liegt nicht in der Skulptur, sondern im Dialog mit ihr. Indem eine Masse – eine gestaltete Masse Holz – einen Leerraum, einen Gegenraum, einen Negativraum genau bezeichnet, erfüllt sie für den entsprechenden Positivraum die Funktion des Spiegels. Das Spiegelbild ohne Spiegel: die abstrakte Masse. Hier bezeichnet die abstrakte Masse sehr genau die Einsamkeit der Individualität: Die Individuation wird vom Einzelnen alleine vollzogen.
Tadeus Pfeifer
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